Programme

Gipfeltreffen
Alban Berg
Sonate op. 1
Franz Liszt
Sonate in h-moll
- Pause -
Frédéric Chopin
Sonate Nr. 3 op. 58 in h-moll
- Allegro maestoso
- Scherzo. Molto vivace
- Largo
- Finale. Presto non tanto
Das Wort 'Auflösung' lässt sich verschieden interpretieren. In der sogenannten tonalen Musik beschreibt es den Moment des Umschwungs von der Dominante in die Tonika. Es löst sich die aufgebaute Spannung auf in das harmonische Zentrum des Musikstücks. Ein befriedigendes Erlebnis! (Im Wortsinne: oft gehen dem einkehrenden Frieden lange, verwickelte musikalische „Kämpfe“ voraus). Es kann sich aber auch etwas ganz anderes „auflösen“, etwas, dass die so vertraute beschriebene Auflösung unmöglich macht: das System der Ordnung und Hierarchie musikalischer Zusammenklänge, die größere Bedeutung bestimmter Noten in einem bestimmten Zusammenhang, kurz: die Tonalität selbst kann sich auflösen.
Wozu dieser schulmeisterliche Exkurs?
Für die hier anstehende Unternehmung - die Begegnung mit den drei Sonaten Bergs, Liszts und Chopins - braucht es etwas Proviant. Wie beim Wandern in großer Höhe sind Ausdauer und Durchhaltevermögen gefragt (bei Hörenden wie Spielenden) und nicht zuletzt eine sichere Orientierung. Doch wer fühlt sich schon seiner Sache sicher beim ersten Akkord der Berg-Sonate?
Das Stück zieht uns den Boden unter den Füßen weg, genau dort, wo wir so lange im Vertrauen auf ewig gültige Ordnungen gestanden haben. Es ist, als gälten auf unserer Landkarte die Maßeinheiten nicht mehr, der Unterschied zwischen Zentimeter und Kilometer wurde getilgt!
Gleichzeitig ist eines klar: hier herrscht keine Anarchie. Die Musik entwickelt sich ihren eigenen - neuen - Regeln folgend und GANZ neu erfindet Berg das Rad nun auch nicht: haben sich die Ohren an die neuen Witterungsverhältnisse gewöhnt, zeigen sich erstaunliche melodische Weiten, rhythmische Initiativen, harmonisches Gestein...
...und Ausblicke auf den Gipfel: Liszts Weltentwurf, seine Sonate in h-Moll. Wie beginnt die eigentlich? Mit einer Pause, mit ganz viel Stille, mit Nichts. Und dann dem Anklopfen von Etwas im pianissimo - maximal un-monumental. Natürlich bleibt es dabei nicht und die Charaktere, die sich hier tummeln sind so dramatisch konturiert, dass Goethes „Faust“ oft zum Vergleich genommen wurde. Liszt gelingt dabei das Meisterstück, seine Themen aus motivischen Gemeinsamkeiten zu entwickeln, sodass zum Beispiel Gretchen und Mephisto den gleichen Gencode besitzen. Das Klavier wird zum Orchester und zur Theaterbühne, der Pianist zum Erzähler, die Musik zum Drama. Und wie endet das Ganze? Mit einer Pause, mit ganz viel Stille, mit Nichts. Und mit Klängen, deren Auflösung sich wie Erlösung anfühlt.
Wer sich mit Beginn der Chopin-Sonate an den Anfang vom op. 1 des Alban Berg erinnert, wird fest stellen, wie weit wir gewandert sind. Der Boden, der uns entzogen wurde, ist zurück und dient als Grundlage für Chopins großes Spätwerk. Diese Musik ist aus dem Klavier heraus geschaffen - das Instrument wird zum Singen gebracht und hört damit nie wieder auf. Chopin kann so eine Welt bereisen, die sich um die Sonne dreht (sprich um die Tonika) und deren Vielgestaltigkeit keine Grenzen gesetzt sind. Die Nuance, der Hauch, die „Kleinigkeit“ sind entscheidend für die filigranen Reliefs dieser Musik. In der Bedeutung eines Halbtonschrittes liegt ein kleines Universum - dies eine der zu erhörenden Gemeinsamkeiten mit den vorangegangenen Werken. Und wenn im letzten Satz mit der Wendung von h-Moll zu H-Dur der Gipfel erreicht ist, wird Auflösung zu Jubel!